Bober UND Rubinstein: Karteikarten und Fotografien
In einem Brief vom 11. September 1946 schrieb Saxl an Krautheimer, dass “Mrs. Bober” an ihrer geplanten Erhebung der Antiken teilnehmen wolle. 1947 stieß Phyllis Pray Bober, die gerade ihren PhD in Archäologie an der NYU abgeschlossen hatte, zum Projekt dazu und war zunächst mit der Erstellung einer Bibliographie beauftragt.
Obwohl Saxls Tod im Jahr 1948 ein schwerer Rückschlag war, konnte sich das Census-Projekt weiter etablieren und 1953 zusätzlich zum Warburg Institute die NYU als Partnerinstitution gewinnen. Zwischen 1953 und 1973 erhielt Bober institutionelle Unterstützung durch die NYU für ihre Arbeit am Census, zunächst in ihrer Funktion als wissenschaftliche Mitarbeiterin und schließlich als Gründungsprofessorin des Departments of Fine Arts.
Unter Bobers Leitung und in Zusammenarbeit mit dem Warburg Institute wuchs der Datenbestand des Census stetig.
In der Frühphase des Projekts lag ein besonderer Fokus auf dem Studium von Skizzenbüchern der Renaissance und deren Veröffentlichung in der Reihe “Studies of the Warburg Institute”. Bobers eigene Publikation der Skizzenbücher des Bologneser Künstlers Amico Aspertini erschien 1957 als Teil dieser Serie. Die Identifikation von Renaissance-Zeichnungen nach Antiken war auch danach ein zentraler Teil von Bobers Arbeit für den Census. Die NYU finanzierte gelegentliche Sommeraufenthalte in Europa, wo Bober in Sammlungen nach Neuentdeckungen forschte.
1972 verließ Bober die NYU und wurde Dekanin und Professorin am Bryn Mawr College. In Bryn Mawr konnte sie ihrer Leidenschaft für die Geschichte von Kochbüchern nachgehen, die in der Veröffentlichung von Art, Culture and Cuisine: Ancient Medieval Gastronomy (1999) mündete.
Eine knappe Zeitleiste von Phyllis Bobers Karriere befindet sich unten.
Warburg Institute Archive, GC, Fritz Saxl an Richard Kratuheimer, 11.9.1946
New York und London
Bobers Arbeit am Census setzte eine enge transatlantische Zusammenarbeit mit dem Warburg Institute voraus. Sie stellt die Karteikarten in den USA zusammen und schickte dann Kopien gebündelt nach London, wo die Kurator*innen der Photographic Collection passende Bilder der antiken Monumente und relevanter Renaissance-Kunstwerke zusammenstellten.
Recto der Census-Karteikarte zum Apollo Belvedere, Photographic Collection des Warburg Institutes
Aktenschränke in der Photographic Collection des Warburg Institutes mit blauen Census-Ordnern
Eine Kopie jedes Fotos, das in London bestellt war, wurde an das Institute of Fine Arts in New York geschickt, um die Karteikarten dort zu vervollständigen. Somit wuchs der Census an zwei Orten und konnte sowohl in London als auch in New York konsultiert werden. Die Londoner Kopie des Census ist nach wie vor im Warburg Institute verwahrt, während das Institute of Fine Arts der NYU 1995 seine Version an das Institut für Kunst- und Bildgeschichte übergab.
Der “analoge” Census, bestehend aus duplizierten Karteikarten und Fotografien, stimmt mit Krautheimers anfänglicher Idee für das Projekt überein. Von Anfang an war es das erklärte Ziel des Census, spezifische Informationen über das antike Material, das Gelehrten und Künstlern der Renaissance zugängig war (“specific information regarding the antique material accessible to Renaissance scholars and artists”) zu sammeln (vgl. Raum 1, Krautheimer, Brief an Saxl vom 13.5.1946, fol. 2). Bobers Karteikarten halten diesen Fokus aufrecht: antike Monumente bildeten die Überschrift jeder Karte, auf der Informationen über den aktuellen Standort, die Provenienz und die Restaurationsgeschichte jedes Stücks aufgeführt waren. Darunter waren literarische und bildliche Quellen der Renaissance gelistet (z.B. Skizzenbücher und Drucke), aber auch bibliographische Verweise.
Die all’antica Erfindungen der Renaissance, Fälschungen oder fantastische Konzeptionen der Antike waren nicht auf den Karten enthalten. Bober schrieb 1963: “Ich suche nicht nach individuellen Körperhaltungen in, sagen wir, Renaissance-Gemälden, denn Künstler entwickeln solche entweder unabhängig oder reaktivieren einen klassischen Prototyp, der in mittelalterlicher Aufmachung übermittelt wurde. Es ist vielmehr das durch direkte Kopie oder Adaptation von Figurengruppen und ganzen Kompositionen abgelegte Zeugnis, das verlässlichen dokumentarischen Wert für den Census hat” (“I do not concern myself with seeking out individual poses in, let us say, Renaissance paintings, because artists may either arrive at these independently or reactivate an ultimately classical prototype transmitted in medieval guise. It is rather the testimony of direct copying or adaptation, of groups of figures or complete compositions, which has reliable documentary value for the Census”, Bober 1963, S.85). Das Census-Projekt war auf Bobers archäologische Expertise angewiesen, um das anfängliche Ziel zu erfüllen, eine vage Idee antiken “Einflusses” durch ein akkurates und spezifisches Verständnis der in der Renaissance bekannten antiken Monumente zu ersetzen.
Weiter unten kann man den Aufbau der Karteikarte für den Apollo Belvedere sehen, die Teil der Census-Version am Warburg Institute ist. In diesem Fall war die von Bober in New York getippte Karte in London mit handschriftlichen Notizen ergänzt worden, vor allem durch Ruth Rubinstein. Rubinsteins Häkchen auf der Karte bestätigen das Vorhandensein der relevanten Fotografien in der Sammlung des Warburg Institutes.
Ruth Rubinstein
Bebilderung, Forschung, Organisation und Erweiterung gehörten zu Ruth Rubinsteins Arbeit in der Photographic Collection des Warburg Institutes. Nach Erhalt von Bobers getippten Karteikarten mit Beschreibungen der antiken Monumente suchte Rubinstein nach dem passenden Bildmaterial. Von 1957 bis 1996 war Rubinstein als wissenschaftliche Assistentin für den Census angestellt. Als solche forschte sie in der Photographic Collection nach relevanten Bildern, bestellte jene, die fehlten, und ordnete sie in den bereits bestehenden Index der Sammlung ein. Die Census-Fotos wurden auf diese Weise Teil des ikonographischen Klassifizierungssystems der Photographic Collection des Warburg Institutes, waren jedoch gesondert in leuchtend blauen Ordnern verwahrt. Jedes Mal, wenn sie ein Foto auftun konnte, vermerkte Rubinstein dies mit einem kleinen Häkchen auf der entsprechenden Karteikarte. Falls sie weitere Darstellungen des antiken Monuments fand, notierte sie dies handschriftlich. Die Rückseiten der Census-Karten und Fotografien in London sind voll mit Rubinsteins “Kritzeleien”: Renaissance-Quellen, die sie in Büchern und Auktionskatalogen gefunden hatte oder auf die sie im täglichen Austausch mit Besucher*innen der Photographic Collection gestoßen war.
Die Studierenden im Census-Seminar hatten die Chance, mit einigen von Ruth Rubinsteins ehemaligen Kolleg*innen zu sprechen, die sich erinnerten, dass ihre warmherzige und einladende Persönlichkeit viele Wissenschaftler*innen an den Census brachte. Das Projekt wuchs dank Rubinsteins großem Netzwerk und Freundeskreis, sowie der geselligen Treffen im Haus von Ruth und Nicolai Rubinstein in Hampstead.
Unten sind Ausschnitte eines unveröffentlichten Manuskripts von Ruth Rubinstein Vortrag “My Thirty-Five Years at the Census in Ten Minutes” abgebildet. Der Text befindet sich im Archiv des Warburg Institutes. Rubinstein hielt den Vortrag aus Anlass eines Census-Kolloquiums im März 1992.
Ruth Rubinstein, © Warburg Institute Archive
Verso der Census-Karte zum Apollo Belvedere, Photographic Collection des Warburg Institutes
Ruth Rubinstein, ‘My Thirty-Five Years in the Census in Ten Minutes’, 1992
© Warburg Institute Archive, Ruth Rubinstein Papers, IV.19.2
In 1957, Enriqueta Harris Frankfort, then the Curator of the Photographic Collection, invited me to work part time in the Collection. I opted to work on the Census of Antique works of Art Known to Renaissance Artists (as it was then called) and have been with it ever since. At that time, the Census was mainly used by editors of the sketchbooks to be published by the Warburg Insittue. To me the Census seemed central to the purpose of the Institute: to throw light on the survival of the classical tradition, in this case by identifying by documentation (of drawings and other sources) the specific antique works of art visible in the Renaissance. Initially my interest in the Census was focussed on the antique works of art available to Pope Pius II whose patronage of the arts in Rome was the subject of my PhD thesis. I never dreamed then that one day a retrieval system would provide a very long answer to that question in a very short time.
As the Warburg Institute’s role in the Census was to provide it with photographs, these acquisitions are listed in the Annual Reports of the Warburg Institute, so I shall not dwell upon them here, but simply describe my work, known as ’servicing the Census’. This consisted of illustrating with photographs the documentary Census cards that Phyllis Bober compiled and sent in batches from the Institute of Fine Arts in New York. That meant checking to see if we already had the relevant photographs in the Collection, and if not, ordering them from museums and photographers. It also meant that it was not always enough to order only once a photograph of an antique statue or the Renaissance drawing of it. Accuracy, patient persistence, and in stubborn cases, the intervention of delicate diplomacy proved to be necessary for this task. The incoming photographs went into blue Census folders at the beginning of the relevant file of the Photographic Collection, arranged according to subject, like the Warburg Library and Phyllis’s Census cards. We sent a copy of each new photograph to Phyllis in New York, so that the material of the Census was duplicated in the two Institutes until the early 1970s.
Two or three things were soon to give it, or rather me, fresh impetus. John Shearman had urged us to compile a handbook from a selection of Census material for the use of students of the Italian Renaissance. I had thought that this would be well beyond my powers, but as no one else was in such proximity to this material combined with the supporting resources of the Warburg Institute’s Library, who else would do it? Happily, Phyllis agreed enthusiastically to such a handbook for students, and her write-ups of her selection of the entries were superb. […] Renaissance Artists and Antique Sculpture, based entirely on the updated Census, was published by Harvey Miller, with some support from the J. Paul Getty Trust in 1986.
Already in 1978 […] when the destiny of the Census still hung in the balance, it was Laurie Fusco, ever one of its special devotees, who first suggested that the Getty Foundation might eventually be able to support the computerisation of the Census, a plan that had been first proposed by Michael Greenhalgh, another enthusiastic Census and computer-user, then at the University of Leicester, and now at Canberra in Australia. All this was several years before the Warburg-Hertziana meeting in Rome in September, 1981, which gave the final impetus to the project which we are now celebrating, when Arnold Nesselrath, who had been using and contributing to the Census since 1975, was appointed to direct its computerisation.
Since that meeting in Rome, the cut-off date of the Census had been extended from 1527 to 1550, and now to 1600, resulting in mysterious crowds of draped female statues waiting to be identified and to enter the Census.
Renaissance Artists and Antique Sculpture, 1986 und 2011
1986 veröffentlichten Bober und Rubinstein “Renaissance Artists and Antique Sculptures: A Handbook of Sources”, eine gemeinsam verfasste Publikation mit Beiträgen der Archäologin Susan Woodford. Das Buch führte Beschreibungen antiker Reliefs, Sarkophage und Skulpturen, die besonders bedeutend für die Künstler*innen der Renaissance gewesen waren, mit einer Liste der Bildquellen und einer überarbeiteten Bibliographie zusammen. Der Text fasst jahrzehntelange Forschung zusammen und reflektiert den Fokus des Census auf figurative Skizzenbücher der Renaissance, der seit seiner Anfangszeit bis in die frühen 1980er-Jahre bestand. Bereits vor der Veröffentlichung einer digitalisierten Version des Census auf CD-Rom machte dieses Buch das Projekt erstmals einem größeren Publikum zugänglich.
Die Tatsache, dass der Titel des Buchs Renaissance-Künstler*innen höchste Priorität zuspricht, zeugt von Bobers verändertem Anspruch an das Census-Projekt. 1989 schrieb sie: “[…] aus der heutigen Perspektive muss ich gestehen, dass ich am Anfang meiner Arbeit für den Census ganz und gar eine Archäologin war” (“from today’s perspective, I must confess that at the beginning of work for the Census I was all archaeologist”). Schließlich sei aus ihr “eine Historikerin der Renaissance ebenso wie eine Archäologin” (“a historian of Renaissance art as much as an archaeologist”) geworden (Bober 1989, S. 375). Bobers lebendige Fantasie fand in der Kunst der Renaissance und der Kulturgeschichte mehr und mehr Anregungen, wie in ihrem rasch zum Klassiker avancierten Artikel “The Coryciana and the Nymph Corycia” (Bober 1977) deutlich wird. Diese Studie im Journal of the Warburg and Courtauld Institutes widmete sich dem Motiv der schlafenden Nymphe in den künstlerischen, dichterischen und antiquarischen Kreisen des 15. und 16. Jahrhunderts in Rom.
“Bober und Rubinstein: Karteikarten und Fotografien” (Raum 2) und “Phyllis Bober und die Digitalisierung des Census” (Raum 3) sind ein gemeinsames Ausstellungsprojekt von:
Pia Ambrosius
Ariana Binzer
Ioana Dumitrescu
Marie Erfurt
Friedrich Fetzer
Marina Goldinstein
Helene Hellmich
Ayami Mori
X. Tuan Pham
Leetice Posa
Valentina Plotnikova
Claire-Elisa Rüffer
Antonia Rosso
Lidia Strauch
Elisa Tinterri
Radu Vasilache
Kevin Varela
Bahar Yerushan
Zhichun Xu