Phyllis Bober und die Digitalisierung des Census
In den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren begann für den Census eine neue Ära. Der Kunsthistoriker Michael Greenhalgh von der Universität in Leicester, ein Pionier im Bereich der geisteswissenschaftlichen Informatik, schlug die Digitalisierung der Census-Datenbank vor und sammelte Unterstützung für dieses Vorhaben. Zeitgleich wurde der mögliche Nutzen eines digitalisierten Census immer deutlicher, denn die Bibliotheca Hertziana, damals unter der Leitung von Christoph Frommel und Matthias Winner, wurde zur Partnerinstitution. Damit erweiterte sich der Umfang des Projekts auch auf architektonisches Material. Das Warburg Institute und die Bibliotheca Hertziana konnten die Unterstützung des Art History Information Programs der J. Paul Getty-Stiftung gewinnen. 1982, mit finanzieller Unterstützung des Getty und unter der Leitung Arnold Nesselraths, begann schließlich die Digitalisierung. Die Datenbank entwickelte sich in den kommenden Jahrzehnten stetig weiter. Dieser Prozess ist in Raum 4 beschrieben.
Für die Gestaltung dieser Ausstellung erforschten die Seminarteilnehmer*innen unter anderem die Briefe Phyllis Bobers, die heute Teil der Bryn Mawr Special Collections sind. Dort stießen sie auf eine Reihe interessanter Briefe aus den frühen 1980er- Jahren, aus denen Bobers Beteiligung an der Digitalisierung des Census hervorgeht.
Bober hatte seit 1946 das Projekt geleitet und den analogen Census aufgebaut. In den 1980ern wagte das seit Jahrzehnten bestehende Census-Projekt eines der ersten Experimente in der heute als “Digital Humanities” bezeichneten Disziplin. Wie würde Phyllis Bober mit dieser Situation umgehen?
Phyllis Pray Bober, Bryn Mawr Library Special Collections
Das Bober-Archiv in Bryn Mawr
Heute befindet sich ein Großteil von Phyllis Bobers Nachlass im Archiv des Bryn Mawr College. Darunter sind persönliche Briefe und andere Dokumente wie für den Census angefertigte Karteikarten und zahlreiche Briefe von Ruth Rubinstein, in denen es z.B. um ihr “Handbuch” geht.
Dieser Raum widmet sich einigen Briefen, die Bober an Joe Trapp, den Direktor das Warburg Institutes, und an Nancy Englander vom Getty richtete und aus denen ihr Beitrag zur Digitalisierung des Census hervorgeht. Zentrale Zitate aus diesen Briefen sind unten transkribiert.
Bryn Mawr Special Collections, Brief von Phyllis Bober an Joe Trapp (detail), 31. Mai 1982
Phyllis Bober, Briefwechsel, 1982–3, Bryn Mawr Special Collections
Finally I get down to sending you a note on my trip to Frankfurt, Gesellschaft für Information und Dokumentation (GID), a former institute of MPG, and to Munich, Max-Planck (MPG), to discuss our computer plans […]
At first I got the impression that the people I talked to liked the project and that they did not see any major basic problem. At the moment there are two main questions to solve: The first is which machines we want to use […] the second question was concerned with the programming.
[…] I was asked also a few minor questions; e.g. they said in Frankfurt, we had to take into consideration when we start programming, whether and, if so, how we wanted to distribute our material (publication or on-line system). I can understand more clearly the work of writing a good thesaurus, something that was always obvious, but I can see better the work which will be required.
Letter to Joe Trapp, 31.5.1982
[Regarding the programming language of the computerised Census, Michael Greenhalgh] recommends Pascal; I know none, but understand that Basic (which might be easier for non-initiated users?) is less flexible and Fortran really designed for hi-speed math work. LISP, Pl‑1 or Pascal or???—anything so long as it is a language regularly taught in academic institution’s free course for faculty.
[…] If Pascal is easy to acquire, fine. This is an important point because I think it important that any on-line users be able to make up their own program to use the data base in new searches we might not have anticipated.
Letter to Joe Trapp, 26.8.1982
Apologies for computer illiteracy and, in the back of my mind, the still nagging memory of Warburgian antipathy for data retrieval and what in the 40’s was termed ‘the spectre of the i.e. Princeton Index of Christian Art’. It arises from my disquiet about modern intellectual and educational life; we seem more and more to resemble latter-day Romans cataloguing, making encyclopedias, retreiving and preserving atomized knowledge rather than seeking synthesis and basic research expanding into new realms of thought. I will be reconcilied only if we make this project a tool for constructive work i.e. in-put might include undocumented ‘possibles’ both from the history of museums and collections as well as unidentified drawings and literary descriptions, inventories (?? And this should somehow be made valuable to archaeologists in re restoration, earlier interpretations of given works, find-spots, etc.
Letter to Joe Trapp, 26.8.1982
Does on-line as projected mean only direct query at Warburg and Hertziana? Is it visualised for satellite or telephone access from other locations or will those abroad simply be served by up-dated print-outs and staff answers to letters? Has anyone considered costs in the former case? and charges? […] My mental picture was of two (or, indeed, four) micros both Warburg & Hertziana, compatibly speaking to each other and each Institute considered a central location for editing and change, Warburg figurative, Hertziana architectural, no matter how many other machines might be tuned in on compatible discs somewhere (foreshadowing future too immediately, perhaps).
Letter to Joe Trapp, 26.8.1982
[Describing a discussion at the Warburg Institute about the Census computer project]
The general topic of upgrading the graphics; queries about ways to permit comparison of drawings with ancient monuments or other pairings of images impossible to achieve in analog; enormous costs of laser video-discs that might help in solving problems we foresee in light of most users preferring image rather than text access to the data base in the first instance; and storage problems. Above all, problems of reproduction rights on photographic copyrights. Since I chair the art historians’ committee of the College Art Association Board of Directors and we are presently addressing the issue of vastly increased reproduction fees that are hampering scholarship, I was particularly interested in his question, an important one if we contemplate 108,00 [sic] to 150,000 images on video-disc. […] Networking, aside from the Hertziana connection; compatability with the British academic network and the Science Research Council. This service is free to academic users in Britain, but some question was raised about who charges and receives fees for Census users at some geographical distance or working from a satellite (?).
Letter to Nancy Englander, 19.6.1983
I was relieved to find that no adaptation will be included in the data base, so that my worries about “pollution” of the Census were shown to be groundless.
Letter to Nancy Englander, 19.6.1983
In den frühen 1980er-Jahren richtete Bober einige Briefe an Joe Trapp, in denen sie Einsichten aus Diskussionen teilte, die sie mit Bekannten und Beteiligten am Digitalisierungsprozess bezüglich der Hardware, Software und Programmierung der computerisierten Datenbank geführt hatte. Sie besuchte die Gesellschaft für Information und Dokumentation in Frankfurt am Main sowie die Max-Planck-Gesellschaft in München als Vertreterin des Census. In einem Brief an Trapp vom Mai 1982 fasste sie die Ergebnisse beider Treffen zusammen, in denen es vor allem um Hardware und Programmierung ging.
Ein wiederkehrendes Thema in sämtlichen Briefen dieser Zeit ist Bobers selbst-diagnostizierte Unfähigkeit in Bezug auf Computer. Sie bezeichnete sich als “computer-illiterate” und “technopeasant”. Obwohl dies den Eindruck vermitteln könnte, dass sie nicht in der Lage gewesen sei, den Census in seine nächste digitale Phase zu begleiten, belegen die Briefe, dass dies nicht der Fall war. Sie hatte keine Angst vor der digitalen Zukunft, war zu dieser Zeit aber unsicher, wie die Digitalisierung in die Tat umgesetzt werden würde. In den Briefen spricht sie Bedenken an, die noch heute relevant sind: Die Kosten der Reproduktion von Bildmaterial, Speicherprobleme und die Frage, wie der Zugang von Benutzer*innen auf die Datenbank gewährleistet werden kann. Lange vor der Ära des Internets stellte Bober sich vor, dass die Computer in London und Rom vielleicht per Satellit oder Telefon erreichbar sein würden. Suchergebnisse würden, so ihre Idee, ausgedruckt und dann per Post an Wissenschaftler*innen verschickt werden. Die gedruckte Veröffentlichung schien zu dieser Zeit eine sicherere Methode, um die Ergebnisse des Census-Projekts bekannt zu machen, und wurde im Handbuch Renaissance Artists and Antique Sculpture (1986) schließlich umgesetzt.
Aus den Briefen gehen auch Bobers Bedenken hervor, die Digitalisierung könne den Wert des Projekts verändern. Sie sorgte sich, dass das gesamte Vorhaben im Fall technischer Schwierigkeiten untergehen würde. In Anlehnung an ihre lange gehegte Befürchtung, die Karteikarten könnten zu steril seien, bestand sie darauf, dass der digitale Census ein offenes und kreatives Werkzeug sein solle. Es war ihr Wunsch, dass der digitale Census die Synthese neuer Ideen, neuen Denkens und “konstruktiver Arbeit” ermöglichen würde, anstatt eine bloße Datenbank zu sein. Aus diesem Grund schlug sie vor, sogenannte “possibles” und bislang nicht identifizierte Objekte aufzunehmen. Der Census war durch Zusammenarbeit gewachsen und Bober hegte die Hoffnung, dass Forscher*innen die Datenbank nicht nur benutzen, sondern auch erweitern würden. Sie malte sich die Möglichkeiten aus, die entstünden, wenn Archäolog*innen die Pascal-Programmiersprache z.B. im Rahmen kostenloser Universitätskurse lernen würden.
In der Entwicklung ihres Standpunkts bezüglich der neuen, technologischen Richtung des Census sprach sich Bober auch für Archäolog*innen aus, denn sie hatte Bedenken, dass deren Bedürfnisse von der Arbeit der Programmierer*innen und Kunsthistoriker*innen nicht bedacht werden würden.
Als das Datenmodell für den digitalen Census Gestalt annahm, war es ihr wichtig, den Census vor der “Verschmutzung” (“pollution”) durch die Aufnahme von Adaptionen, also Renaissance-Erfindungen all’antica anstatt direkter Antworten auf genuin antike Monumente, zu schützen.
“Bober und Rubinstein: Karteikarten und Fotografien” (Raum 2) und “Phyllis Bober und die Digitalisierung des Census” (Raum 3) sind ein gemeinsames Ausstellungsprojekt von:
Ariana Binzer
Ioana Dumitrescu
Marie Erfurt
Friedrich Fetzer
Marina Goldinstein
Helene Hellmich
Ayami Mori
X. Tuan Pham
Leetice Posa
Valentina Plotnikova
Claire-Elisa Rüffer
Antonia Rosso
Lidia Strauch
Elisa Tinterri
Radu Vasilache
Kevin Varela
Bahar Yerushan
Zhichun Xu