Burchards Box und die Geburt des Census
Im Gegensatz zur berühmtesten Büchse der Antike – namentlich jener, die Pandora zu öffnen wagte – war nicht alles Böse und Schlechte in der Kiste, die wir in der Photographic Collection des Warburg Institutes fanden. Tatsächlich war eher das Gegenteil der Fall, enthielt sie doch sogar Apollo, den Gott des Lichts, der Weisheit und der Künste. Obwohl Götter für gewöhnlich nicht in Holzkisten leben, konnte Apollos Gegenwart an diesem Ort dennoch Jahrzehnte der kunsthistorischen und archäologischen Forschung bereichern.
Die Kiste, derzeit Teil der Photographic Collection des Warburg Institutes, enthält viele Karteikarten und Notizen in den Handschriften der Kunsthistoriker Ludwig Burchard (1886–1960) und Alfred Scharf (1900–1965), zweier deutsch-jüdischer Wissenschaftler, die vor den Nationalsozialisten geflohen waren. Burchard war ein angesehener Kenner des flämischen Künstlers Peter Paul Rubens. Er kam 1935 nach London und war dort in der Lage, seine lebenslange Rubens-Forschung weiterzuführen. Seine Arbeit legte schließlich den Grundstein für das Forschungsinstitut Rubinaeum in Antwerpen.
In den 1940er-Jahren galt eine von Burchards Hauptinteressen der Frage, welche antiken Kunstwerke Rubens und seine Zeitgenossen gekannt haben könnten. Er gewann Scharf für die Aufgabe, dieser Frage am Warburg Institute nachzugehen. Unter Burchards Leitung sammelte Scharf Karteikarten, auf denen jene antiken Monumente vermerkt waren, die Rubens und andere Künstler*innen des 16. und 17. Jahrhunderts gekannt haben könnten. Er betitelte die Karten mit dem Namen des jeweiligen Monuments und versammelte darunter eine Liste der Werke Rubens’ und anderer, die mit dem Monument in Verbindung gebracht werden konnten.
Unter den Karten in Burchards Box ist eine dem Apollo Belvedere gewidmet. Die Karte und die Notizen, die sich auf diese Skulptur beziehen, sind untenstehend transkribiert.
Burchard Census, Warburg Institute Photographic Collection
Ludwig Burchard, © Collectie Stad Antwerpen
Alfred Scharf, © Estate of Alfred Scharf, mit freundlicher Genehmigung von Ursula Price
Notizen zum Apollo Belvedere
Karteikarte und Notizen enthielten Fakten zum Monument und seiner postklassischen Geschichte: Fundort, Provenienz und Restaurationen gemeinsam mit künstlerischen Darstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts, die mit dem Monument in Verbindung gebracht werden konnten, so wie diejenigen rechts, von der Hand Albrecht Dürers, und unten, von Rubens. Der Aufbau von Burchards Karteikarten ähnelt somit stark jenen, die Phyllis Bober und ihre Mitarbeiter*innen für den Census entwickelten und auf die in Raum 2 näher eingegangen wird.
Die Arbeit von Burchard und Scharf war ein unmittelbares methodisches Vorbild für den Census und schuf ein Modell für den kooperativen Anspruch des Projekts, der sich bereits im Zusammenspiel zwischen Burchards Notizen und Scharfs Karteikarten zeigt.
Bilder: Apollo Belvedere, © bpk Bildagentur/Scala; Albrecht Dürer, Apollo and Diana, © The Trustees of the British Museum; Peter Paul Rubens, The Council of the Gods, © bpk / RMN — Grand Palais / Hervé Lewandowski / Christian Jean
Die Geburt des Census
Der Census entstand, als der Zweite Weltkrieg gerade zu Ende ging. Die Notwendigkeit eines solchen Instruments wurde erstmals von Richard Krautheimer (1897–1994) ausgedrückt, einem deutschen Kunsthistoriker, der in die USA geflohen war, um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entkommen. Seit 1937 unterrichtete Krautheimer am Vassar College und an der New York University.
In den 1940er-Jahren arbeitete Krautheimer an einer Veröffentlichungsreihe zu christlichen Basiliken, dem Corpus Basilicarum Christianarum Romae. Gemeinsam mit seiner Frau, Trude Krautheimer-Hess, schrieb er außerdem an einer Monographie über den Florentiner Renaissance-Bildhauer Lorenzo Ghiberti. Von einem Mangel an Wissen über die Kenntnis der Antiken im 15. Jahrhundert frustriert, schrieb er im September 1945 an Fritz Saxl, den Direktor des Warburg Institutes in London, mit dem Vorschlag, einen ‘Korpus’ der im 15. Jahrhundert bekannten Antiken zu organisieren:
I tried to instruct myself somewhat on questions of early 15th century knowledge of antique art. But, as you know, the difficulties are really enormous. […] Couldn’t we try to organize a corpus of antiques known to the 15th century? I wish we could discuss it when you come here this winter.
What you say about the 15th century collections of antiques is very true. Scharf has for years collected the material, at my suggestion. […] He reconstructed i.e. the earliest 15th century sketchbooks from the antique. It is time that somebody, either at New York University or with us, tackled the subject.
Untenstehend finden sich Fotografien und Transkriptionen dieser Korrespondenz, die als Ursprung des Census-Projekts gesehen werden kann. Die Briefe sind im Archiv des Warburg Institutes verwahrt.
Richard Krautheimer, © Archives and Special Collections, Vassar College
Fritz Saxl, c. 1939, © Warburg Institute Archive
Die Entwicklung des Formats
Als Fritz Saxl 1946 die USA besuchte, arbeiteten er und Krautheimer an ihrer Idee für einen Census der in der Renaissance bekannten Antiken. Sie einigten sich, dass Saxl eine Fördersumme für das Projekt bei Henry Allen Moe von der Guggenheim Foundation beantragen würde. Am 13. Mai 1946 schickte Krautheimer in Vorbereitung für das Treffen ein Manifest des Census-Projekts an Saxl, das Format, Inhalte, Arbeitsprozesse und Finanzierung genauer darstellte. In diesem Dokument schreibt Krautheimer, dass weitere Informationen über das antike Material, das Wissenschaftlern und Künstlern der Renaissance zugängig war dringend notwendig seien, um ein besseres Verständnis des Phänomens der Renaissance (“a more thorough and more specific understanding of the phenomenon of the Renaissance”) zu erlangen. Der Wert des Census-Projekts läge in der Erforschung der frühen Funde und Sammlungen, der Geschichte des Geschmacks und dem generellen Einfluss der Antike auf Renaissance-Kunst, Kunsttheorie und humanistische Studien. Er rät, den Umfang des Projekts auf Italien zu reduzieren und sich auf die Zeit bis 1532 oder sogar nur bis 1490 (“the period up to 1532, or possibly only up to 1490”) zu beschränken.
Das Warburg Institute würde die Sammlung literarischer Quellen betreuen, während das Institute of Fine Arts an der NYU Verantwortung für die Bildquellen und die Geschichte der antiken Kunstwerke übernehmen würde.
Der gesamte Inhalt von Krautheimers Brief an Saxl, heute im Archiv des Warburg Institutes, ist unten abgebildet und transkribiert. Drei unterschiedliche Quellen, die sich auf in der Renaissance bekannte antike Kunstwerke beziehen oder diese darstellen, kommen laut Krautheimer für einen solchen Census infrage.
Three types of sources referring to or describing antique works of art extant in the Renaissance are available for such a Census.
Literary sources of the Renaissance (Inventories of collections; travel descriptions; letters of humanists; writings on art and on antiquity).
Pictorial sources of the Renaissance
- reproductions of antique works (sketches; books; individual drawings; engravings).
- works of art inspired or dependent on antique prototypes (paintings, sculpture, engravings, medals, etc.)
Remnants of antiquity having survived through the Middle Ages and Renaissance to this date. (Collections of sarcophagi at Salerno; Florence; Pisa; Arles; sculpture at Rome.)
In anderen Briefen, die im Archiv des Warburg Institutes aufbewahrt sind, schildern die beiden Gründer ihre Hoffnungen, wer mögliche Kooperationspartner*innen des Projekts sein könnten. Ein Plan, der schließlich nicht in die Tat umgesetzt werden konnte, war die Mitarbeit bei der Suche nach Textquellen durch Roberto Weiss, Lecturer in Italienisch am University College London. Sie schreiben auch, dass der deutsche Kunsthistoriker William S. Heckscher ein Jahr am Institute for Advanced Studies in Princeton verbringen würde, um zu erforschen, welche antiken Kunstwerke sich während der Renaissance in Rom befanden.
Aus den Briefen wird klar, dass die Gründer des Census in der Frühphase des Projekts vor allem mit Bedenken seitens “Lee, Pan and Kennedy” (Rensselaer Lee, Erwin Panofsky und Clarence Kennedy) konfrontiert waren, die anmerkten, dass das Vorhaben zu steril sein könnte. Sie bezogen sich auf “the spectre of the Index of Christian art”, ein Karteikartensystem, das 1917 in Princeton gegründet worden war. Am 8. Oktober wandte Krautheimer sich mit diesen Bedenken an Saxl: “Ein Index ist so gut und so steril wie die Menschen, die ihn machen und nutzen” (“An index is as good and as sterile as the people who make and use it”). Er schlug vor, den Plan zu überarbeiten und einen stärkeren Fokus auf individuelle Studien zu legen, die sich auf das zentrale Problem beziehen, und den Index eher als Anhang dieser Studien zu verstehen (“that would mean placing more emphasis on individual studies which would centre around the main problem and making the index a mere offshoot of such studies”). Eine Wende hin zur Sammlung von Material im Rahmen individueller Studien würde “dem Individuum mehr Freiheit geben, aber, ich befürchte, die Veröffentlichung einer Handliste verzögern” (“it obviously would give more freedom to the individual but at the same time it may, I fear, postpone the publication of a handlist”).
Krautheimer äußerte anschließend seine Überlegungen zum chronologischen Umfang des Projekts, die den Census bis heute prägen. Der Inhalt seines Briefs ist im Kasten auf der rechten Seite transkribiert.
There also have been several suggestions concerning the field to be covered in our project. One is to extend the field of research so as to include practically the entire XVII century. I am quite strongly opposed to this, because the material would grow without limits, and I am sure that the two of us (and I might add, Lehmann whom I saw yesterday) will agree. Another suggestion is to include the case history of Antiques known during the Middle Ages. This suggestion seems to be valid. A third suggestion was to include derivations from Antiquity in Renaissance paintings (postures, etc,), but that would overlap with the Warburg Atlas and definitely lead in a different direction.
Burchards Box und die Geburt des Census ist in Zusammenarbeit folgender Personen entstanden:
Christopher Lu (Warburg Institute)
Lucy Salmon (Humboldt-Universität zu Berlin)
Zahra Syed (Warburg Institute)
Hannah Sommer (Humboldt-Universität zu Berlin)